Die Geschichte des Chipsatzes für russische VAXen


Edward
Proidakov


Die Geschichte der Informatik, ist wie jede andere Geschichte vielseitig, denn sie spiegelt die reale Welt mit all den Forschritten der Technologie, der Menschen, ihrer Beziehungen sowie ihrer Umstände wieder.

Wenn es Dokumente gibt, die ein Ereignis beschreiben und Daten und Fakten liefern können ist das eine feine Sache,
aber 2 wichtige Komponenten bleiben dann außen vor: die Motivation und der Zeitgeist.

Die Verfügbarkeit von Dokumenten über die Geschichte der Rechentechnik in Russland ist katastrophal weil viele Archive der Unternehmen und Institutionen dieser Branche massiv zerstört wurden. Deshalb wird in den letzen Jahren mehr Aufmerksamkeit auf die mündliche Überlieferung von Menschen gelegt, die selbst Zeugen des Geschehens waren.

Das hat aber auch Nachteile. Die Erinnerungen können zeitlich ungenau sein, und die Schätzungen subjektiv. Deswegen ist es wahrscheinlich am besten, beide Ansätze zu kombinieren.

Das Thema des folgenden Intervievs dreht sich um sowjetische VAX Computer. Als in den frühen 1980er Jahren klar wurde, dass leistungsfähige Minicomputer teilweise Arbeiten von Mainframes übernehmen können, begannen 2 konkurrierende Ministerien - Minpribor und Minelektronprom heftig miteinander um diese wichtige Nische in der Computertechnik zu konkurrieren.

Minpribor produzierte Prototypen von VAX Maschinen (CM-1700, CM-1702) im Werk Vilnus als Teil der CM Computerfamilie und MEP produzierte diese in Voronesh. Der Wettbewerbsvorteil von MEP war, dass es sich selbst die gewünschten Mikroprozessor-Chipsets entwickeln und produzieren konnte, Minpribor aber nur "Reste" von MEP bekam.

Des Weiteren begannen in den 1980ern die osteuropäische RGW-Länder mehr und mehr unabhängig von der Sowjetunion Computerpolitik zu machen, ins Besondere war es Bulgarien, das durch den Bau von ca.15 im Westen gekauften Werken ein wichtiger Lieferant der UdSSR für; Computerperepheriegeräte geworden war und manchmal sogar dreist seine Bedingungen diktierte (ich war Zeuge bei den Verhandlungsgesprächen über die Festplattenlieferung für Minpribor im Jahr 1984 in Vilnus). Bulgarien hatte auch eine unabhängige Produktion von Mikro-und Mini-Computern, einschließlich VAX Prototypen gestartet.

Ich biete Ihnen einen Teil des historischen Interviews mit Sergei Shisharin, Direktor der Firma „Junicor- Microsystem“ (der zweite Teil dieses Interviews über die Firma war in PC Week/RE, Nr.19/2004, S.42 veröffentlicht), der beschreibt, wie das Forschungsinstitut „Angstrem“ ein Analog der amerikanischen VAX 750 in Mikroprozessorausführung entwickelt hat (den es bei DEC als Chipsatz nie gab, [Anm. Des Übers.])

Eduard Proidakov: Beginnen wir mit der Geschichte. Wie wurde Ihre Firma gegründet, was haben Sie vorher gemacht?

Sergei Shisharin: Das ist eine ziemlich lange Geschichte, weil das Kernteam des Unternehmens, das heute den Namen "Junicor-Micro" trägt, in der Sowjetzeit gebildet wurde. Wir arbeiteten damals alle am Forschungsinstitut für Technologie und an dem Werk "Angstrem", das Flaggschiff der russischen Mikroelektronik. Es war dort eine Abteilung Nr. 21, die ikroprozessoren entwickelte. Wissen Sie, es gab in der Sowjetzeit im Wesentlichen zwei Verfahren:
Einerseits das Kopieren westlicher Muster, also der Nachbau von ICs womit Voronesh beschäftigt war. Zum Beispiel, so wurde ein bekannter LSI-11 Mikroprozessor des amerikanischen Konzerns DEC kopiert. Auf dieser Grundlage entstand der Mikrocomputer „Elektronika-60“.

Wir wurden aber mit der Entwicklung von zu westlichen Originalen kompatiblen Mikroprozessoren beschäftigt. Eine prinzipielle (architektonische) Kompatibilität war vorhanden, aber strukturelle und schaltungsmäßige Lösungen waren anders. Diese Aufgabe war deutlich schwerer.EP: An welchen Prozessor IC Serien haben Sie gearbeitet?

S.S: Es waren die Typen 1801BM-1, BM-2, BM-3. Dann Mitte der achtziger Jahre hat der Minister von Minelektronprom Vladimir Kolesnikov entschieden, 32-BIT Prozessoren zu produzieren, die mit Prozessoren von DEC kompatibel sind. Übrigens war ich dagegen, weil ich dachte, die Zukunft gehört nicht Mainframes oder Minis, sondern dem PC.
Mich hat aber Niemand gefragt... und dann wurde ein 32-BIT Chip Set entwicklet und produziert, das Softwarekompatibilität mit dem VAX Computer hatte.
Auf dieser Grundlage haben wir den „Elektronikia-32“ Rechner gebaut. Er war architektonisch mit der VAX-750 kompatibel. Zu diesem Zeitpunkt hatte DEC schon die Micro VAX-I und Micro VAX-II.

EP: Erinnern Sie sich an den Namen Ihres Chipsatzes?

S.S: Klar, erinnere ich mich: K1839. Als Erstes wurde der Prozessor entwickelt, und dann Co-Prozessor für Arithmetik mit Fließkoma, der Memory-Controller, dann der Host-Bus-Adapter. Die Ganze Sache war gegen Ende der 1980er schon fertig.
Aber dieser Weg war sehr schwer. Ich denke immer noch dass es eine Frechheit unsererseits war so ein Projekt überhaupt zu beginnen, da der DEC Konzern zu diesem Zeitpunkt ein Computer-Monster mit riesigen Recourcen war.

Gegen Ende 1980er investierte DEC etwa 400 Millionen Dollar für Forschung und Entwicklung und unser Entwicklungsteam bestand aus nur ca. 10 Mitarbeitern. Zwei Männer davon haben den Prozessor und Co-Prozessor gemacht, zwei Andere haben Mikroprogramme geschrieben, Alle waren austauschbar. Ich entwickelte die Chips, machte Platinen und beschäftigte mich mit Debugging usw..
Der Chef der Abteilung Nr.21 war Valery Leonidovich Dshhunyan, er ist heute der Direktor von "Angstrem".

EP: Ich vermutete dass viel mehr Mitarbeiter involviert waren?

S.S: Es waren natürlich mehr Leute, da sich die Abteilung nicht nur mit 32-Bit-Prozessoren beschäftigte.
Wir haben damals sehr viel gearbeitet - auch Samstags und Sonntags. Mein Sohn erinnert sich noch:
"Papa, ich habe dich sehr vermisst in dieser Zeit".

Als wir diesen Chipsatz entwickelt hatten führte dies zu einer paradoxen Situation:

Wir hatten es geschafft, Alles schien zu funktionieren, aber es stellte sich heraus, dass es Niemand wirklich brauchte. Im Land gab es eine Veränderung, es begannen harte Zeiten. Wir hatten eine Zeitperiode in der das Gehalt nur drei Dollar pro Monat betrug. Einer ging nach Kalifornien, ein Anderer bekam einen neuen Job, wie z.B. Systemadministrator bei Procter & Gamble.
Um irgendwie zu überleben, kamen wir auf eine klasse Idee: Der IBM PC etablierte sich auf dem Markt und wir haben für ihn eine Erweiterungskarte mit unserem Prozessor und Speichercontroller gebaut. Wir nannten das VAX-PC. Wenn diese Karte in einen PC eingesetzt wurde ergab das 2 Computerwelten in einem PC. Die PC-Festplatte wurde in 2 Hälften geteilt, eine Hälfte enthielt das originale PC Betriebsystem, auf die Andere wurde VAX VMS aufgespielt und die arbeiteten parallel.
Das bedeutete der Benutzer konnte entweder mit PC und dessen Software oder mit der VAX arbeiten.
Die Prozessoren störten sich untereinander nicht, weil sie sich nur Bildschirm, Tastatur und Laufwerk
teilten. Die VAX hatte einen eigenen Hauptspeicher.

Wir gründeten ein kleines Unternehmen das ensprechend der Anzahl seiner Mitarbeiter "Projekt 16" hieß und das existierte vor allem auf Grund der Tatsache, dass diese Karten produziert und verkauft wurden.
Der Verkauf funktionierte aber nicht so gut da wir zwar gut entwickeln konnten, aber als Geschäftsleute waren wir schlecht. Allerdings hat dieses kleine Unternehmen uns geholfen irgendwie zu überleben. Drei Dollar pro Monat war zu wenig, aber als die Karten verkauft wurden lief es besser.

Diese Karte wird noch heute in einigen Luftfahrzeugen verwendet. Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gesammelt, aber anwenden konnten wir diese sonst nirgendwo.

Solche düstere Vorgänge gab es in allen sowjetischen Elektronikbereichen als die monopolartigen Elektronikkombinate unbrauchbar wurden. Der Großverbraucher in der Sowjet-Ära war das Militär, aber das hatte nun auch kein Geld mehr...

Natürlich fand "Angstrem", "Mikron" seine Nische - Chips für Taschenrechner und das ist recht gut gelaufen.
Es kam eine Zeit in der "Angstrem" mit Taschenrechner-chips 75% Marktanteil weltweit hatte. Ein gutes Beispiel für eine Firma die High-Tech-Produkte exportiert und ein Marktfürer in einer Branche ist. Auf der anderen Seite ist der Preis für diese Chips sehr klein: etwa 6 Cent bei einem Selbstkostenpreis von 5 Cent.
In den 1990-er Jahren konnte man sich so über Wasser halten, jetzt müssen aber andere Wege gefunden werden. Damals haben wir eine komplizierte und schwierige Aufgabe recht gut gelöst und konnten mit dem Weltmarkt Schritt halten. Ich war derzeit sehr unzufrieden darüber, dass wir für diesen Satz von Chips so lange gebraucht hatten, aber als ich heraus fand wie viel Zeit DEC für MicroVAX-1 und MicroVax-2 investiert hatte, wurde mir klar das sie genau so lange gebraucht hatten wie wir, allerdings mit anderen Mitteln und anderen Voraussetzungen.
Also beruhigte ich mich dann wieder und dachte, dass wir doch gute Arbeit geleistet hatten.

EP: Und diese Chips haben Sie nur ausgehend vom Datenblatt neu projektiert?

S.S: Nein, wir verwendeten das Applikationshandbuch. MicroVAXen sind auch von der Struktur her anders.
Wir entwickelten einen Rechner der der VAX Architektur entsprach. Es gab es kein direktes Vorbild für die Chips.

EP: Aber die Software war kompatibel?

S.S: Ja, aber wir hatten eine VAX 750 in Mikroausführung gebaut. Unsere Platine wurde von Betriebsystem als VAX750 identifiziert und die ganze Mathematik arbeitete als VAX750, aber unser Chipsatz bestand aus nur 4 Chips.

EP: Wie hoch war der Integrationsgrad?

S.S: Alles wurde mit 3µm Strukturbreiten erstellt, deswegen konnten in einem Chip bis zu 100 000 Gatter verbaut werden. Die Recheneinheit war am größten. Wie wir es damals realisiert hatten und wie das heute gemacht wird - das ist ein himmelweiter Unterschied. Damals wurde alles per Hand gezeichnet, per Hand wurde die Topoligie von Chips getestet, jede innere Verbindung und jede Schaltung. Es war ein riesiger Schaltplan auf 20 Seiten und jedes Blatt wurde mit einem Kreuz gekennzeichnet das bedeutete dass diese Schaltung geprüft wurde. Erst dann wurde Topologie getestet. Es war einer verdammt harter Job.

Wir haben natürlich alles simuliert und die logischen Modelle wurden auf einem Projektierungssystem (auch VAX)
entwickelt, aber die Topologie selber wurde per Hand erstellt und genauso wie die Schaltpläne per Hand gezeichnet.

EP: Vielen Dank für das Interview

Link zur Textquelle russisch: http://www.155la3.ru/datafiles/VAX_russia.pdf

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